Ein sechzehnjähriger indischer Schüler erblickt eines Tages auf dem Weg zu seinem Internat ein seltsames Gefährt auf der Straße, – ein offener Wagen, in dem fünf oder sechs Weiße, vermutlich Engländer, sitzen. Hinten auf dem Fahrzeug steht deutlich das Wort „FORD“ geschrieben.
Er erfährt, dass dieses Gefährt ein Automobil aus Amerika sei. Sein Erfinder sei Mr. Ford, der jeden Tag viele solcher Fahrzeuge herstelle. Für den jungen Schüler ist das ein großes Rätsel. Wie war es möglich, dass ein Mann so schwere, komplizierte Fahrzeuge, die auf der Straße fahren konnten, jeden Tag herstelle? Außerdem kann er sich nicht vorstellen, was für eine Kraft das war, die ein so schweres Fahrzeug so schnell dahinrollen lassen konnte. Nur die Sonne, der Mond, das Licht und der Sturm vermochten sich mit solcher Geschwindigkeit fortzubewegen; keine Pferde oder Büffel sind zu sehen, die das Fahrzeug ziehen.
Von nun an ist er von den Gedanken besessen, wie er die Wahrheit über das Ford-Automobil, über Amerika und über Mr. Ford herausfinden konnte, ob er wirklich ein menschliches Wesen sei, das Automobile herstellt. All das muss er mit eigenen Augen sehen. Völlig benommen von dieser Wahnidee fasst er eines Tages den Entschluss durchzubrennen, Amerika zu erforschen und Mr. Ford persönlich aufzusuchen. Am Ende seiner Reise erfährt er eine tiefe spirituelle Wahrheit.
ZUR EINFÜHRUNG
Das Leben des Autors der folgenden Erzählung mutet an wie ein indisches Märchen.
1903 in einem kleinen Dorf im Bergland des Punjab geboren, kam Surendra Nath Jauhar mit siebzehn Jahren nach Delhi, um in der Hauptstadt sein Glück zu versuchen. Er lebte von der Hand in den Mund, aber durch harte Arbeit und seine außergewöhnliche Begabung für Organisation und Menschenführung gelang ihm nach wenigen Jahren der Aufstieg zum erfolgreichen Unternehmer. Der unbekannte Junge aus der Provinz wurde zu einem angesehenen Wirtschaftsführer und einer einflussreichen Persönlichkeit – einem klassischen „Selfmademan“.
Doch das war nicht alles. Als rebellischer Geist geriet er schon als Schüler in Lahore in Konflikt mit den britischen Behörden. In Delhi schloss er sich mit Begeisterung der Unabhängigkeitsbewegung von Mahatma Gandhi an. Zweimal wurde er verhaftet und zu Gefängnisstrafen verurteilt. Er wurde gefoltert und brutalen Schikanen ausgesetzt. Einmal wäre er beinahe erschossen worden. Es waren finstere Jahre, aber sie konnten seinen Geist nicht brechen. Inzwischen war er Familienvater geworden, und auch seine tapfere Frau Dayawati bekam die Härte der Militärgewalt zu spüren.
Die Turbulenzen jener Zeit und sein persönliches Schicksal führten Surendra Nath auf eine spirituelle Suche, die erst ein Ende fand, als er im Dezember 1939 in Pondicherry der „Mutter“, Sri Aurobindos spiritueller Weggefährtin, begegnete. In der Erzählung My Greatest Discovery („Meine größte Entdeckung“) hat er dieses Ereignis geschildert.
Die Begegnung mit der Mutter veränderte sein Leben von Grund auf. Er stellte sich selbst, seine Arbeitskraft, sein Vermögen und seine ganze Familie in den Dienst Sri Aurobindos und der Mutter. Als Sadhak des Integralen Yogas, Sri Aurobindos Vision einer vergeistigten Zukunft der Menschheit, gründete er den Sri Aurobindo Ashram-Delhi Branch mit dem Segen der Mutter und war Jahre und Jahrzehnte rastlos tätig, um den Ashram aufzubauen. Mit letzter Lebenskraft schuf er ein weiteres Zentrum in Nainital, einer ehemaligen Hill Station in den Bergen des Himalaja. Von schwerer Krankheit gezeichnet, die weder die Hingabe an seine Mission noch seinen Arbeitswillen bremsen konnte, waren die letzten Jahre seines Lebens ein wahrer Leidensweg. Zum Schluss ging er den Weg des „Fakirs“, wie er sich selbst nannte, des besitzlosen Gottsuchers, und lebte zurückgezogen in einer Hütte im Ashram.
Als er am 2. September 1986 starb, wurde sein Leichnam nicht verbrannt, sondern nach altem Brauch als „verwirklichte Seele“ an der Stätte seines Wirkens in der Erde beigesetzt, in unmittelbarer Nähe des Schreins, der die Reliquien Sri Aurobindos birgt. Es ist eine würdige und zugleich bescheidene Gedenkstätte. Eine schlichte Grabplatte und eine Büste, oft bekränzt mit frischen Blumen, ehren sein Andenken.
Sri Surendra Nath Jauhar hinterließ ein gewaltiges Werk. Aus einem riesigen, verwahrlosten Stück Land jenseits der Stadtgrenze von Delhi, wo sich die Füchse Gute Nacht sagten und lichtscheues Gesindel sein Unwesen trieb, war unter seinen Händen mit dem Beistand der Mutter und Sri Aurobindos eine Oase blühenden Lebens entstanden: ein Ashram, wie es neben Pondicherry keinen anderen dieser Art gibt.
Die besondere Liebe und Sorgfalt des Gründers galt der Schule, die als „The Mother’s International School“ hohes Ansehen genießt und heute zu den besten Schulen des Landes zählt. Er selbst war ein charismatischer Lehrer, der es verstand, die Schüler mit seiner eigenen Begeisterung und Liebe anzustecken und seine jungen Hörer und Hörerinnen mit Geschichten und Anekdoten zu fesseln. „Der Generaldirektor“ ist eine solche meisterhaft vorgetragene Geschichte. „Pitaji“ (Vater) oder „Chachaji“ (Onkel), wie er von vielen, die ihm nahestanden, liebevoll genannt wurde, lässt seine eigene Jugend und geistige Suche in die Erzählung einfließen: Wie er stammt der jugendliche Erzähler aus dem Punjab, wie er brannte er mit siebzehn Jahren durch, um Antworten auf seine Fragen zu finden, und entdeckte schließlich wie der Autor die göttliche Quelle allen Seins.
Freiheitskämpfer, Politiker, Unternehmer, Baumeister, Pädagoge, Schriftsteller, genialer Erzähler, Karmayogi und Fakir – können so viele Facetten eines Menschen in einem einzigen Leben Platz haben? Er war ein Mann der Tat und gleichzeitig ein wahrer Gottsucher. Er war der geborene Führer, ein Alpha-Tier, wie es im Buche steht, und unterwarf sich willig der Führung jener Frau, die als „Mutter“ bekannt ist, die Shakti Sri Aurobindos, die weibliche Kraft, die den von ihm verkündeten göttlichen Willen in der Welt umsetzte. Ein Geschäftsmann aus Instinkt und Leidenschaft, der sein Unternehmen auf ethische Prinzipien gründete und mit dem erworbenen Vermögen dem Wohl der Menschen diente – könnte ein solcher Mann im rücksichtslosen Turbokapitalismus unserer Zeit nicht zu einem neuen Leitbild werden?
Sein Vermächtnis lebt weiter in dem von ihm gegründeten Ashram, den seine Tochter Tara seit Jahren leitet, mit großer Treue unterstützt vom ältesten Sohn Anil bis zu dessen Ableben im Februar 2014. Sein Geist lebt fort in der dynamischen Entwicklung des Ashrams, seiner Ausstrahlung und Anziehungskraft, der wachsenden Zahl seiner Einrichtungen, den vielfältigen spirituellen, pädagogischen, intellektuellen, künstlerischen und sozialen Angeboten, die immer mehr Menschen erreichen. Letztlich ist alles das Werk des „Generaldirektors“, aber es bedarf der Hände eines Dieners, wie Sri Surendra Nath Jauhar einer war, mit ganzem Herzen und allen Kräften des Leibes und der Seele.
Susanne Schaup